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Im Gespräch mit Prof. Dr. Florian Artinger:

Wie transparente KI die Prozesse im Forderungsmanagement verbessert (1/2)

Von der Antike bis weit in das 20. Jahrhundert ging man davon aus, der Mensch handelt rational und Entscheidungen basieren rein auf dem zu erwartenden Nutzen. Erst in den 50er Jahren beschäftigten sich Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger Herbert A. Simon, der zudem als einer der Urväter der Künstlichen Intelligenz gilt, intensiv mit Entscheidungsvorgängen in Unternehmen und dem menschlichen Verhalten in Organisationen. Fast 70 Jahre später ist die moderne Wissenschaft einen ganzen Schritt weiter, nicht zuletzt durch die interdisziplinäre Arbeit des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, das 1963 in Berlin gegründet wurde.

 

Dort forscht auch Prof. Dr. Florian Artinger, der mit vier Kolleginnen und Kollegen 2015 als Ausgründung Simply Rational ins Leben rief. Die Arbeit seines Unternehmens basiert auf Ansätzen aus Data Science, Behavioral Science und Organisationsentwicklung. Durch die Verbindung menschlicher und künstlicher Intelligenz will Simply Rational erfolgreiche Lösungen für komplexe Entscheidungssituationen schaffen.

Wir haben mit Prof. Dr. Florian Artinger über die spannenden Projekte seines ‚Entscheidungsinstitutes‘ gesprochen und die Zusammenarbeit mit atriga genauer beleuchtet.

 

Lesen Sie jetzt den ersten Teil des Interviews

Prof. Dr. Artinger, warum haben Sie sich für den Schritt in die Privatwirtschaft entschieden und sind aus der Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung in den Wettbewerb getreten?

Wir interessieren uns dafür, wie Menschen Entscheidungen treffen und was sie benötigen, um gute Entscheidungen zu treffen. Das könnte man durchaus auch im Labor mit Studenten aus dem 5. Semester studieren. Aber es ist viel spannender, relevanter und interessanter, das mit den eigentlichen Entscheidern zu machen, die mit echten Problemen konfrontiert sind. Da bietet uns die Universität nur einen sehr begrenzten Rahmen und daher haben wir diesen Schritt gewagt.

 

Wann und wie ging es los mit Simply Rational?

Unser erster Kunde war 2015, im Jahr unserer Gründung, ein Start-up im Forderungsmanagement. Wir haben uns damals mit der Fragestellung beschäftigt, wie die Interaktion mit Schuldnern funktioniert und wie Machine Learning konkret dabei helfen kann, diese zu verbessern. Das war ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man an ein Thema mit wissenschaftlichen Methoden herangeht, also den Status quo betrachtet, misst, Veränderungen vornimmt und Verbesserungen erreicht – sowohl für den Schuldner als auch für das Unternehmen.

„Gerade atriga ist auf diesem Gebiet seit vielen Jahren erfolgreich unterwegs und hat spannende Arbeit geleistet. Zum Beispiel über digitale Kommunikation zu ermitteln, wo der Schuldner steht und wo die Reise noch hingehen kann.“

 

Prof. Dr. Florian Artinger

Prof. Dr. Florian Artinger ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Associate Researcher an der Warwick Business School. Artinger arbeitet und forscht an der Schnittstelle zwischen Ökonomie, Management und Psychologie. Für seine Forschungsarbeit nutzt er unter anderem Big Data aus Internetmärkten, Experimentalstudien und Computersimulationen. www.simplyrational.de

Der Transfer in die Praxis funktioniert also anhand ganz konkreter Anwendungsbeispiele?

Verhaltensforschung beruht auf mittlerweile rund siebzig Jahren wissenschaftlicher Erkenntnis. Am Max-Planck-Institut sind hier ganz entscheidende Beiträge geleistet worden. Und das nicht losgelöst von der Realität. Genau diesen Transfer in die Praxis zu managen und die relevanten Aspekte aus der Wissenschaft mitzunehmen, das haben wir bisher gut hinbekommen.

 

Es geht also darum, Entscheidungsprozesse deutlich und messbar zu verbessern?

Genauso ist es. Wir schauen uns die Entscheidungsprozesse in Unternehmen an mit dem Ziel, diese systematisch zu verbessern. Und zwar unter der Voraussetzung, dass man das auch messen kann. Im Inkassobereich vergleichen wir bestehende mit neuen Systemen, die wir aufsetzen und wo unsere kognitiven Algorithmen Daten verarbeiten, um eine schuldnerzentrierte Ansprache zu finden. Dann machen wir ganz klassisches A/B-Testing. Einer unserer Referenzkunden im Inkasso erreicht normalerweise eine Rückzahlungsrate von 49 Prozent, mit unserer Unterstützung landete er aber bei 63 Prozent. Gerade aus der wissenschaftlichen Perspektive wollen wir genau dahin kommen: zu einem messbaren Erfolg, den man in Euro- und Cent-Beträgen ausdrücken kann.

 

Das klingt erstmal zu einfach, um wahr zu sein.

Ja, richtig. Allerdings ist es in einer dynamischen, komplexen Umwelt manchmal gar nicht so einfach, immer genau den Finger auf die harten Fakten zu legen und daraus Handlungen abzuleiten. Was man häufig in Unternehmen findet, ist eine starke Absicherungskultur. Im Englischen gibt es dazu den schönen Begriff CYA = Cover Your Ass. Betrachten wir das mal genauer: Option A wäre die richtige, birgt aber das Risiko zu scheitern. Option B hat ein geringeres Risiko. Was macht der Entscheidungsträger? Viele wählen Option B, weil sie sich damit besser absichern und das auch besser dokumentieren können.

Bei Umfragen in Unternehmen gaben 20 bis 50 Prozent der Befragten zu, dass ihre Entscheidungen vor allem dazu dienten, sich selber abzusichern. Welche Konsequenzen das hat, zeigte eine Studie bei einer großen deutschen Organisation mit 120.000 Mitarbeitern: Das Unternehmen verliert pro Jahr etwa 3,5 Milliarden Euro aufgrund solcher Entscheidungen. Wir zeigten dann anhand von Feldstudien auf, mit welchen Maßnahmen man hier gegensteuern und die die Häufigkeit an defensiven Entscheidungen bis zu fünfzig Prozent reduzieren kann. Ein ganz klassisches Beispiel dafür, wie wir vorgehen, um Entscheidungsprozesse messbar zu verbessern.

 

Sind maschinelle Entscheidungen immer besser?

Lassen Sie mich dazu ein Beispiel geben: In einem Projekt von Kollegen aus Stanford in den USA ging es darum, ob ein Beschuldigter mit oder ohne Kaution freigelassen wird. Um diese Entscheidung zu treffen, setzt die USA auf sehr moderne Methoden: Ein Computerprogramm, das auf mehr als sechzig Variablen und Machine Learning basiert, erstellt eine Vorhersage für jeden einzelnen Angeklagten. Anhand bestimmter Parameter entscheidet die Maschine, ob für diese Person eine Kaution erlassen werden soll oder nicht. Unter der Bedingung, dass er überhaupt zum Gerichtstermin erscheint.

Die ‚menschlichen‘ Richter ließen bei 1.000 Fällen 69 Prozent der Beschuldigten ohne Kaution frei, 31 Prozent unter Kautionsauflagen. Der komplexe Machine-Learning-Algorithmus lässt hingegen 79 Prozent ohne Kaution frei, also zehn Prozentpunkte mehr. Bei den Entscheidungen der Richter erschienen 13 Prozent der Betroffenen nicht vor Gericht, beim Algorithmus 12,4 Prozent. Die Erfolgsquote ist fast identisch, aber der Algorithmus lässt sehr viel mehr Leute ohne Kaution auf freiem Fuß.

 

Und wann kommen Sie in Spiel?

In dem Projekt wurde anhand statistischer Methoden und Methoden aus der Kognitionspsychologie ein ganz einfacher Algorithmus erstellt, der abbildet, wie der Mensch Entscheidungen trifft und der zudem sehr transparent und intuitiv verständlich ist. Die Variablen sind zum einen das Alter des Beschuldigten, zum anderen, wie häufig diese Person in der Vergangenheit bereits nicht zu Gerichtsterminen erschienen ist. Das erstaunliche Ergebnis: Der simple Algorithmus performt genauso gut wie der komplexe Machine-Learning-Algorithmus, der normalerweise verwendet wird.

 

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews wie die Kombination aus atriga-Expertise und den Forschungsergebnissen von Simply Rational eine überzeugende Win-Win-Situation ergeben.

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